Eine Loge namens „Westphalia“ am Rhein, und ausgerechnet in Köln, ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Offenbar lässt sich die Frage nicht einfach mit „ja“ oder „nein“ beantworten. Dazu müssen wir ein wenig in die Geschichte der Loge und damit auch der Stadt Arnsberg im Sauerland eintauchen, denn dort wurde die Loge gegründet.
Arnsberg, Westfalen und Kurköln
Bis vor etwa 850 Jahren – genau: bis 1180 – gehörte die Grafschaft Westfalen, in der Arnsberg später zur Stadt heranwuchs, zu Sachsen. Mit der Zerschlagung des Herzogtums Sachsen wurden die Kölner Erzbischöfe Herzöge von Westfalen. Dieses Territorium war nur ein kleiner Teil Westfalens, wie wir es heute kennen, und lag in seinem Süden, von Kurköln durch die Grafschaften Mark im Norden und Berg im Süden getrennt, auf die die kölnischen Erzbischöfe wenig Einfluss hatten. Den Kölner Herrschern fehlte also die Landbrücke zu ihrem neuen Terrain. Dies führte dazu, dass sich die Effizienz ihrer politischen und militärischen Bemühungen, im Herzogtum Westfalen fest Fuß zu fassen, angesichts des Widerstands des dortigen Adels und einiger mächtiger westfälischer Städte in Grenzen hielt. Der Streit und Kampf währte etwa 400 Jahre, bis sich der 1583 zum Kurfürsten gewählte Erzbischof Ernst von Bayern mit Hilfe bayerischer Truppen im gesamten Kölner Erzstift durchsetzte. Das dauernde Gerangel dürfte dazu geführt haben, dass auch heute noch mancher, gleich ob Rheinländer oder Westfale, besonders nachdenklich eine Augenbraue hochzieht, wenn er von der Loge „Westphalia“ in Köln Kenntnis nimmt – so, wie es geschieht, wenn jemand in Düsseldorf damit prahlt, dass er Kölsch trinkt, oder jemand in Köln damit, dass er Altbier trinkt.
Arnsberg musste in dem nicht enden wollenden rheinisch-westfälischen Tauziehen beizeiten die Seiten wechseln.
Da sich abzeichnete, dass seine Ehe kinderlos bleiben und sein Erbe an die Grafschaft Mark oder an Kurköln fallen würde, verfuhr Graf Gottfried IV. von Arnsberg nach dem Grundsatz „Lieber mit warmen Händen geben!“ und verkaufte sein Territorium im Jahre 1368 an den Kölnischen Erzstuhl. Er erhielt dafür 130.000 Gulden und das Recht, sich als (einziger) weltlicher Fürst in einem Hochgrab im Kölner Dom beisetzen zu lassen. Dann zog er zusammen mit seiner Frau nach Köln. Dem Handel waren erbitterte kriegerische Auseinandersetzungen mit dem Hause Mark vorausgegangen, die darin gipfelten, dass Arnsberg belagert, eingenommen und niedergebrannt wurde. Infolge des Eigentümerwechsels geschah der Wiederaufbau auf kurkölnischem Boden und als kurkölnische Residenzstadt.
Übrigens dürfte auch die kölnische Herrschaft im 18. Jahrhundert bleibende Spuren im kollektiven westfälischen Gedächtnis hinterlassen haben: Die opulente Hofhaltung des Landesherrn Clemens August von Bayern, der von 1723 bis 1761 das Herzogtum regierte, belastete den Staatshaushalt erheblich, und seine Beteiligung am Kampf gegen Friedrich II. von Preußen (nebenbei: auf dessen Geheiß unsere Großloge gegründet wurde) während des siebenjährigen Krieges von 1756 bis 1763 führte zu gewaltigen Kriegslasten und damit endgültig zum wirtschaftlichen Ruin des Landes, der bis zum Ende des kölnischen Kurstaates, also bis Ende des Jahrhunderts, anhielt.
Das Jahr 1794 veränderte alles. Die napoleonischen Truppen nahmen Köln ein. Viel weiter mochte beziehungsweise konnte Napoleon zunächst nicht nach Osten vorrücken, das Herzogtum Westfalen blieb ungeschoren. In Köln galten fortan die liberalen französischen Gesetze. So wurden etwa Juden und protestantische Christen den Katholiken gleichgestellt. Den Kölner Bürgern gefiel das alles offenbar sehr gut, denn als Napoleon selbst 1804 nach Köln kam, wurde er begeistert bejubelt.
Auch für Arnsberg gab es wichtige Veränderungen. Der Einfluss der im Wesentlichen entmachteten lästigen Kölner schwand. 1802 fiel das Herzogtum Westfalen an die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, zum Ausgleich ihrer linksrheinischen Territorialverluste infolge der Besetzung durch die napoleonischen Truppen. Arnsberg wurde Garnisons- und Regierungssitz für die Provinz „Herzogtum Westfalen“. 1816, nach dem Wiener Kongress, wurde das Herzogtum Teil der viel größeren preußischen Provinz Westfalen – so wie auch Köln fortan zu Preußen gehörte -, und Arnsberg wurde Sitz eines Regierungspräsidenten. Insbesondere infolge des Zuzugs preußischer Beamter wuchs die Bevölkerung der Verwaltungs- und Beamtenstadt an, die Stadt Arnsberg expandierte. Ein flächendeckendes Bildungswesen war gerade etabliert, und die Industrialisierung hatte begonnen.
In diese Zeit mannigfaltigen Umbruchs fällt die Gründung unserer Loge „Westphalia zur Eintracht“. In und um Arnsberg hatten sich so viele Brüder Freimaurer gefunden, dass eine neue Loge ins Leben gerufen werden konnte.
Die Loge
Das Konstitutionspatent der Großen National Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ trägt das Datum vom 5. Juni 1830. Die Gründungsfeier, zu der über 80 Brüder erwartet wurden, fand am 15. September 1830 statt.
Ab dem 7. März 1859 ruhte die Loge wieder. Das heißt, dass nach knapp 29 Jahren die Zahl der Brüder nicht mehr ausreichte, um Tempelarbeiten zu zelebrieren.
Die Loge wurde 1924 erneut ins Leben gerufen und arbeitete bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Die „dunkle Zeit“ der Freimaurerei in Deutschland begann.
Am 16. November 1985 wurde ein neues Patent für die Loge „Westphalia zur Eintracht“ erteilt.
Anfang des Jahres 2024 wurde abermals erwogen, die Loge ruhen zu lassen, da es in Arnsberg nicht mehr genug Brüder gab, um sie fortzuführen. Da fügte es sich, dass in Köln etwa zwei Dutzend Brüder den Wunsch hatten, der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ beizutreten, weil sie eine ausgeprägte Leidenschaft für den Symbolreichtum alter maurerischer Rituale mitbrachten und ihnen das althergebrachte Ritual dieser Großloge gerade recht kam. Nach einigen Abstimmungsgesprächen wurde einvernehmlich mit der Großlogenleitung und den verbliebenen Brüdern in Arnsberg beschlossen, die „Westphalia zur Eintracht“ nach Köln umzuziehen und neu zu beleben. So haben wir in Köln Brüder beerbt, die vor fast 200 Jahren, quasi auf der Schwelle zu einer gemeinsamen und einträchtigen Geschichte des Rheinlands und Westfalens, die Arnsberger Loge gründeten. Wir sind diesen Brüdern – und auch denen, die uns ihre Loge so bereitwillig an den Rhein übergeben haben – im Dank und im maurerischen Geiste verbunden und tragen unseren Logennamen mit Stolz und Freude.
Für die Frühzeit unserer Loge gibt es infolge der beiden langen Pausen in der Logengeschichte nur wenige Zeugnisse. Ob unsere maurerischen Vorfahren bei der Wahl des Logennamens ihr altes Herzogtum vor Augen hatten, das nun in der viel größeren Provinz Westfalen mit der Hauptstadt Münster aufgegangen war, oder doch gerade das ganze große Westfalen? Dachten sie an die politische Dimension, oder kam es ihnen auf alte kulturelle Werte an, die sie in Gefahr sahen, im Preußischen auf- und unterzugehen? Lag dem Namenszusatz „zur Eintracht“ der Wunsch nach politischer Einigkeit zugrunde, der Traum von friedlicher Koexistenz in der neuen preußischen Konstellation? Oder sollte der Fokus der Brüder auf das einträchtige Miteinander in der Loge gelenkt werden?
Wir wissen es nicht. Vermutlich wollten unsere Brüder, die die Loge gründeten, auch Möglichkeiten offenlassen. Viele gute Logennamen sind deutbar, wie die Symbole, mit denen wir im Tempel umgehen.
Vor dem Hintergrund der skizzierten jahrhundertelangen Probleme und Auseinandersetzungen steht für uns das Heimischwerden der „Westphalia“ in Köln metaphorisch und exemplarisch für die Zusammenführung und Auflösung der – scheinbaren – Gegensätze, die in vielerlei Gestalt zu den Aufgaben unserer Logen gehört.
Und schließlich … Ähnlich wie Westfalen im Wappen durch ein schönes und starkes Pferd verkörpert wird, können wir uns Westphalia auch als weise, schöne und starke Manifestation des ewig Weiblichen vorstellen, das uns bekanntlich hinan zieht (Goethe) und uns durch sie auch wichtige Wahrheiten mitteilt – beispielhaft auf der Startseite zu lesen.
Aber eine Loge besteht nicht nur aus Fakten wie ihrem Namen und dessen geschichtlichen, geographischen und sonstigen Bezügen. Wer eine Loge wirklich kennenlernen will, muss sie besuchen.